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Die blinden Flecken des Joseph Dillard bei seiner Beurteilung des integralen AQAL-Weltbildes
Gerhard Höberth, 25. April 2021
Am 6. April 2021 veröffentlichte die Webseite one-mind einen Artikel von Joseph Dillard zu den »Blinden Flecken im integralen AQAL-Weltbild«, auf den ich in einer Diskussion hingewiesen wurde, weil es die Position meines Diskussionspartners genau beschreibe. Zitat: »da steht eigentlich alles drin«.
Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, diesen Artikel genauer unter die Lupe zu nehmen und Punkt für Punkt (Überschrift für Überschrift) durchzugehen.
Zunächst will ich aber feststellen, dass ich diese Kritk am AQAL-Weltbild nicht deshalb kritisiere, weil ich der Ansicht bin, dass es keine Probleme in der Szene integraler Menschen gäbe. Ich trenne nur gerne zwischen der Theorie und den sie vertretenden Menschen.
Es gibt ZB in den USA sehr viele »Integrale«, die der Ansicht sind, »integral denken heißt rechts denken«. Dies begründen sie damit, dass durch die Erkenntnis der Entwicklungsebenen einerseits klar wird, dass jeder selbst die Verantwortung für seine Persönlichkeitsentwicklung trägt und andererseits bei der Gestaltung der Gesellschaft auf die Bedürfnisse der unteren Ebenen Rücksicht zu nehmen ist, wodurch sich (wegen Ebene Blau) eine strenge Low&Order Hierarchie mit patriarchalen Strukturen als konservative Werthaltung zwingend ergibt.
Andererseits gibt es auch Stimmen (die vermehrt in Europa auftauchen), die besagen, »integral denken heißt links denken«. Begründet wird dies mit steigenden moralischen Fähigkeiten und einer permanenten Vergrößerung des »Tellerrandes« der Perspektive und der Aufgabe, dem einzelnen einen Kontext anzubieten, der seiner persönlichen Entwicklung förderlich ist.
Ich halte beide Positionen für falsch, da linkes und rechtes Denken nichts mit den Entwicklungsebenen zu tun hat, sondern mit einer unterschiedlichen Gewichtung der Quadranten auf ALLEN Ebenen. Aber das ist eben der Punkt: Man kann nicht das System von AQAL dafür verantwortlich machen, dass manche ihre persönlichen politischen Vorlieben mit diesem System rechtfertigen wollen.
Wie ich hier versuchen werde aufzuzeigen, macht auch Joseph Dillard mit seiner Kritik nichts anderes. Er kritisiert das System als zu theoretisch, weil es in der Praxis von manchen in einer Form ausgelegt wird, die seinen Vorlieben entgegenstehen.
Wenden wir uns also dem Artikel selbst zu:
Zunächst kommt eine Würdigung von Wilbers Werk, dem ich mich durchaus anschließe. Unter anderem:
»Sein Vier-Quadranten-Ansatz zum Verständnis der Realität ist von unschätzbarem Wert, um Gleichgewicht und Inklusivität in jeder Weltanschauung zu unterstützen. Konzeptionell leistet AQAL eine lobenswerte Arbeit, ....«
Dies dient - wie ich vermute – einerseits der durchaus wichtigen Vermittlung, dass sich der Autor eingehend mit der Theorie befasst hat (was er ohne Zweifel hat) und andererseits der Vorbereitung der Abgrenzung von anderen Kritikern Wilbers, denen der Autor nicht folgen will:
»Ich stimme nicht mit einigen der häufigsten Kritiken an Wilber und Integralem AQAL überein, zum Beispiel, dass es “zu intellektuell” ist und dass es an Gefühl und Mitgefühl mangelt.«
Und später:
»Ich schätze Integral AQAL aufrichtig und respektiere Wilber hoch für seine vielfältigen wichtigen Beiträge zu meinem Wachstum und für den Fortschritt des menschlichen Verständnisses im Allgemeinen.«
In dieses Lob wird schließlich die Ankündigung der Kritik verpackt:
»Dies ist der Kontext des Respekts und der Wertschätzung, in dem ich die folgenden Kritiken an dem anbiete, was ich als Einschränkungen des Integralen AQAL, wie es gegenwärtig formuliert ist, betrachte.«
Ehrlicherweise schränkt er seinen Standpunkt ein. Man muss dem Autor also hoch anrechnen, dass er sehr vorsichtig mit seiner eigenen Kritik umgeht:
»Es ist jedoch leicht, Integral, irgendetwas oder irgendjemanden zu kritisieren; es ist viel schwieriger, vernünftige und praktische Wege zu einer Synthese höherer Ordnung oder einer noch umfassenderen Variante von Integral vorzuschlagen.
... Gleichzeitig muss die übliche Kritik, dass alternative Ansichten abgetan werden können und sollten, als kämen sie von einer niedrigeren Entwicklungsstufe, sorgfältig bedacht werden.«
Soweit so gut. Dann aber folgt die Immunisierung gegenüber jeder Kritik an seinen Einwänden:
»In integralen Foren verbergen sich hinter solchen Argumenten oft oberflächliche Ablehnung, Abwertung und Elitismus, Exzeptionalismus und Hybris.«
Darf man also die integrale Theorie selbst auf seine Kritik nicht anwenden, wenn man sich nicht einer elitären Hybris verdächtig machen will?
Leider funktioniert das so aber nicht. Deshalb werde ich den Verdacht riskieren, oberflächlichen Exzeptionalismus zu betreiben (indem ich dem Irrglauben aufsitze, dass der Autor in seinem ersten Abschnitt recht haben könnte, dass die AQAL-Theorie zum Verständnis etwas beitragen könne.)
Um zu zeigen, dass seine Kritik keinem Prä-Verständnis der Theorie entspringt, sondern einem Trans-Verständnis, geht er kurz auf verschiedene Stadien bei der Konfrontation mit Lehren allgemein ein:
»Der klassische Bogen der Beziehung zu Lehrern, Gurus, Arbeitgebern und Zugehörigkeiten kann als vier Stadien konzeptualisiert werden: Flitterwochen-, Widerstands-, Produktiv- und Abbruchphase.«
Er selbst befindet sich dabei – wie er betont – in der Post-Abbruchphase, in der er jede Idealisierung der Lehre durch die »Gelegenheit zur psychologischen Anpassung« durch die »Fünf Stufen der Trauer« (Kübler-Ross) abgelegt hat.
Dabei beansprucht er für sich eine Weiterentwicklung, die er so beschreibt:
»Wenn wir uns erlauben, Perspektiven außerhalb der Echokammer des Gruppendenkens in Betracht zu ziehen, wird unsere Gewissheit über unsere Weltanschauung, unser Engagement oder unsere Beziehung schließlich beginnen, in Frage gestellt zu werden.«
... und in der Konsequenz erklärt er – ohne es explizit zu benennen –, was in der AQAL-Theorie das 2. Rang-Bewusstsein genannt wird:
»Das führt zu einem reiferen Engagement für die Arbeit, um Dinge zu erledigen, um die Sache, das Unternehmen oder die Beziehung aufzubauen. Wir sind uns der Kompromisse und Abstriche bewusst, die wir machen, und wir akzeptieren sie, weil das Vorantreiben der kollektiven Ziele der Sache wichtiger ist als die Nachteile oder Einschränkungen, die wir erfahren haben. Solche Menschen sind nicht so sehr wahre Gläubige als vielmehr Praktiker dieser oder jener Spielart der “Realpolitik”. Wie Machiavelli können sie objektiv Vor- und Nachteile abwägen....«
Das ist bemerkenswert, weil es genau das Thema seiner späteren Kritik an AQAL betrifft. Ich werde darauf zurückkommen.
Nun folgen einige persönliche Hintergründe des Autors, an denen vor allem sein Hinweis auf seine Yoga-Praxis interessant ist:
»Der Unterschied ist, dass diese [AQAL] von einem stabilen Gefühl des Selbst, “mir selbst”, geleitet werden. Das Yoga, das ich machte, wurde in Zusammenarbeit mit einem sich ständig verändernden Kollektiv von multiplen Perspektiven und Weltanschauungen geleitet. Anstatt psychologisch geozentrisch zu sein, war es psychologisch polyzentrisch. AQAL ist es nicht. Dieser Unterschied war die Grundlage für meine Kritik an AQAL.«
Meiner Meinung nach hat er da aber AQAL falsch interpretiert, denn am Ende ist AQAL nicht auf »das stabile Gefühl des Selbst« gegründet, sondern auf die Stabilität des Zeugen in mir selbst. Das ist ein großer Unterschied, denn das schließt sehr wohl ein »sich ständig verändernden Kollektiv von multiplen Perspektiven und Weltanschauungen« mit ein. Aber es weist gleichzeitig immer darauf hin, dass es immer nur die Perspektive MEINES ZEUGEN ist, wenn ich muslitperspektivisch zwischen den Weltanschauungen wechsle (und zwar völlig unabhängig davon, wie sehr man davon überzeugt ist, dass man tatsächlich [ontisch] die Perspektive von anderen Standpunkten einnimmt).
Und dann kommt der Hauptpunkt, auf den sich seine später Kritik aufbaut:
»Zusätzlich hörte ich mir die Perspektiven von mehreren Leuten an, die Wilber aus moralischen Gründen kritisierten.«
(Darauf komme ich dann zurück, wenn es um die konkrete Kritik geht.)
Nun kommt der zweite Abschnitt des Artikels, in dem die Kritik konkretisiert wird.
Zunächst beschreibt er das Problem jeder Lehre, die ein stetiges Kontinuum in diskrete Schubladen zu ordnen versucht:
Ohne Schubladen keine erkennbare Ordnung, aber mit Schubladen ein die Wirklichkeit vergewaltigendes Prokrustes-Bett. Der Prozess der Wahrnehmung muss durch die Schubladen geschult, dann aber von diesen befreit werden. Dieser Prozess ist nicht abkürzbar, indem man von vorne herein auf die Schubladisierung verzichtet. Dafür gibt es auch die im AQAL die Metapher der generellen psychologischen Entwicklung von Prä-Persönlich über »Ich-Bewusstsein« zu Trans-Persönlich. Die Pathologien eines solchen Prozesses mag man bedauern, aber man muss damit umgehen. Inkludiert ist die Hybris derjenigen, die diesen Prozess gerade durchlaufen und die Landkarte der Schubladen mit der Wirklichkeit verwechseln. Diese blinden Flecken sind also nicht AQAL-spezifisch, sondern ein generelles Prinzip von Theorien, welche die Wirklichkeit erklären wollen.
Dann aber macht der Autor seinen Kardinalfehler:
»Für uns alle, in unseren alltäglichen Beziehungen im äußeren kollektiven Quadranten, ist die Moral, nicht die Kognition, führend.«
Wenn man schon eine Linie (wie Kognition, Selbstsystem, Moral, Spiritualität, ... ) darauf anwenden will, dann ist es die Sozialkompetenz im Dialog. Aber Dillard beschränkt die gesamte Morallinie auf diesen Teil, als ob es zu Moral nicht mehr zu sagen gäbe. Mit dieser überhöhten Einseitigkeit der moralischen Linie führt er dann seine Kritik fort.
Wobei ich keinesfalls behaupte, dass Moral, die »funktional aus Respekt, Gegenseitigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Empathie besteht« nicht wichtig wäre. Natürlich ganz im Gegenteil. Nur seine Verallgemeinerung ...
»Wo sie nicht vorhanden sind, oder eine oder mehrere dieser vier fehlen, ist diese Schlussfolgerung problematisch«
... ist selbst problematisch und führt ihn auf die falsche Fährte, weil er das weite Feld der Moral auf die Sozialkompetenz im Dialog beschränkt und damit die Morallinie aus der Perspektive der 6. Ebene auf die Emergenz der Bernsteinebene (Dialog mit dem Du / Blau / 4. Ebene) festfriert (was das genau bedeutet, dazu später mehr).
Aber schon begehe ich den Frevel, seine Kritik am AQAL-Modell mit dem AQAL-Modell selbst zu kritisieren. Wenn man nun seiner Immunisierung folgt, kann man leider mir nicht mehr folgen. Nichts desto trotz werde ich das gleich im nächsten Abschnitt näher erläutern.
Denn nun kommt Dillard zum Hauptpunkt seiner Kritik.
Er zeigt es exemplarisch am Beispiel Obamas, der einerseits als Person sicherlich ein hohes moralisches Urteilsvermögen besitzt, trotzdem aber Drohnenangriffe genehmigt und riskiert, Zivilisten damit zu töten. Um zu untermauern, was er meint, zitiert er Caitlin Johnstone mit folgenden Worten:
»Ein normaler amerikanischer Libertärer, der Krieg und Militarismus konsequent ablehnt, ist ein besserer Mensch als jeder westliche selbsternannte “Linke”, der das nicht tut. Wir reden hier über Massenmord. Es spielt keine Rolle, wie gut deine anderen Positionen sind, wenn du mit Massenmord für Macht einverstanden bist.«
... und schreibt dazu:
»... ich finde es schwierig, Frau Johnstone nicht zuzustimmen.«
Ja, auch ich finde es schwierig, dieser populistischen Simplifizierung nicht zuzustimmen. Aber sie deckt auch gar nicht die reale Bandbreite der Probleme ab, die in der Praxis gelöst werden wollen. Er schrieb doch gerade vorher noch:
»Das führt zu einem reiferen Engagement für die Arbeit, um Dinge zu erledigen, ... Solche Menschen sind ... Praktiker ... der ‚Realpolitik‘. Wie Machiavelli können sie objektiv Vor- und Nachteile abwägen ...«
Wo ist diese differenzierende Beurteilung plötzlich hin verschwunden?
Weiter führt der Autor aus, warum ihm das wichtig ist, denn es handelt sich bei der Moral – wie er sagt – um eine »Kernlinie«. Wird diese Linie nicht auf allen vier Quadranten entwickelt, verhindert sie die Transformation der Gesamtentwicklung.
Dann führt er es konkret aus, was für ihn das Problem darstellt:
»Das ist nicht nur bei Obama der Fall, sondern bei uns allen, weil wir in Gesellschaften verstrickt sind, die entweder präkonventionell unmoralisch oder präkonventionell amoralisch sind, oder eine Kombination aus beidem. Wir wissen das zumindest durch ihre Unterstützung illegaler Kriege und der israelischen Apartheid. Unser moralischer Entwicklungsstand ist größtenteils amoralisch, weil er mit einem Wirtschaftsmodell verwoben ist, das amoralisch ist (Profit geht vor Menschen) und einem nationalen Modell, das unmoralisch ist (Macht macht Recht). Die unausweichliche Schlussfolgerung ist, dass unser gesamter Entwicklungsstand im mittleren präpersonalen, nicht im postpersonalen Bereich liegt.«
Im Prinzip zeigt er damit nur auf, wie jenes Kollektiv, in das ich als Einzelwesen eingebunden bin, meine eigene Persönlichkeitsentwicklung mit prägt. Ist das Kollektiv weit entwickelt, ergibt es einen Sog, der auch mir die Entwicklung erleichtert. Ist es weniger weit entwickelt, wirkt dies als Hemmung, weil ich mich zwangsläufig immer irgendwie zu arrangieren habe, wenn ich in meiner Kultur überleben will. Daraus schließt er aber weiter:
»Das ist eine schockierende Schlussfolgerung für die meisten Integralisten; sie wollen es nicht glauben. Sie wollen es nicht akzeptieren. Wir können jedoch unsere persönliche Entwicklungsebene nicht von der des Kollektivs, mit dem wir identifiziert sind, abtrennen, ohne unsere gegenseitige Abhängigkeit mit dem äußeren kollektiven Quadranten zu leugnen und aufzugeben.«
Und da liegt er meiner Meinung nach falsch. Dieser Konflikt manifestiert sich NICHT bei allen Integralen als Schock oder als ein »nicht akzeptieren wollen«, sondern viele erkennen darin einen Teil ihrer sozialen Aufgabe.
Ich gebe ihm zwar recht, wenn er schreibt:
»Für diejenigen, die versuchen, ihre persönliche Reise zur Erleuchtung von den Gesellschaften, in die sie verstrickt sind, zu trennen, ist die Antwort, dass sie vorgeben, dass Entwicklung ohne die Tetraverflechtung des äußeren kollektiven Quadranten stattfinden kann. Das kann sie nicht. Sie tut es nicht.«
Aber seine Wahrnehmung »Integralisten sind unter der durchdringenden Illusion, dass sie es können ...«, kann ich nur bei den Esoterikern feststellen, die nebenbei auch einmal Wilber gelesen haben
Das ganze Problem, dass er hier mit dem System von AQAL hat, entsteht aus der Illusion, Moral sei eine einzige Linie.
Ich möchte dazu das Buch »Evolution der Ethik« von Emerich Sumser empfehlen, in dem er auf verständliche Weise drei verschieden, sich teilweise überlappender und sich teilweise widersprechende Ethiken und der jeweils damit verbundenen Moral ableitet (Interaktive Ethik, identitäre Ethik und intime Ethik und die Universalität als Metaethik) und kurz daraus zitieren:
»Die Existenz von je eigenen Sicherheitsregeln und Chancen des Engagements in den unterschiedlichen Beziehungstypen, die ja einen uneinheitlichen ultimaten Ursprung besitzen, hat zur Folge, dass es prinzipiell unlösbare, ethische Konflikte geben kann, die Kompromisse in Form von tragischen Trade-Offs erforderlich machen. Dies ist dann nicht immer ein Ergebnis mangelnder Informationen oder zu wenig sorgfältigen Abwägens, sondern ein der praktischen Ethik inhärentes Problem.«
Joseph Dillard zielt daher völlig am eigentlichen Ziel einer integralen Entwicklung vorbei, wenn er meint:
»Sind wir Holons, die mindestens vier Quadranten besitzen, oder nicht? Wenn wir es sind, dann muss das externe Kollektiv auf der moralischen Kernlinie tetra-mesh sein, damit wir von Ebene zu Ebene vorankommen können. Das tut es nicht und kann es nicht, solange unser Kollektiv in einer amoralischen Wirtschaftsordnung und einer unmoralischen nationalen Beziehung zu anderen Staaten verstrickt ist.«
Das ist ein ad hoc Ausschlußkriterium für jede integrale Entwicklung, die impliziert, dass NIEMAND, der in unsere Gesellschaft integriert ist, gleichzeitig moralisch entwickelt sein könnte. Außer, er zieht sich vollkommen aus der sozialen Gemeinschaft zurück, nutzt keine ihrer Infrastrukturen und besinnt sich im direkten Dialog (therapeutisch / Grün / Perspektive der 6. Ebene) ausschließlich auf die Moral des Du (intersubjektive Empathie / Bernstein / 4. Ebene) und verdrängt damit das Toleranzparadoxon der 6. Ebene, welches als Antrieb zur Transformation zum 2. Rang-Bewusstsein fungiert. AQAL beinhaltet damit explizit die unauflösliche Paradoxie dieser moralischen Diskrepanz, die er anprangert.
Das Ergebnis führt uns Dillard vor Augen: Wer nicht moralisch eindeutig ist (6. Ebene der allumfassenden Toleranz), ist auf jeden Fall Prä-Grün und keinesfalls wirklich integral, sondern verfällt einer exzeptionalistischen Hybris, in der er nur meint, weiter zu sein. Verwendet man nur AQAL zur Interpretation dieser Kritik an AQAL, erkennt man eine Prä-Trans-Verwechslung auf der grünen Ebene. Aber das lässt die anfängliche Immunisierung ja nicht zu.
Für Joseph Dillard ergibt sich das Problem aus der Akzeptanz der In-Group. Integrale bestätigen sich gegenseitig in ihren Theorien und in ihrer Hybris besser zu sein und erkennen deshalb nicht ihre moralische Verkommenheit.
So ein Verhalten ist ohne Zweifel ein Problem der Infoblasen der heutigen Zeit. Ich sehe es deshalb nicht als Problem von AQAL, sondern als generelles Problem des Prozesses der Schulung, wie ich es bereit weiter oben angeführt habe, als ich schrieb: »Die Pathologien eines solchen Prozesses mag man bedauern, aber man muss damit umgehen. Inkludiert ist die Hybris derjenigen, die diesen Prozess gerade durchlaufen und die Landkarte der Schubladen mit der Wirklichkeit verwechseln.«
Wenn Dillard schreibt:
»Der Grund, warum das wichtig ist, ist, dass es fast ein tödlicher Schlag für die Glaubwürdigkeit von Integral in den Augen derjenigen ist, die die Empfänger der unmoralischen und amoralischen Handlungen der Kollektive sind, in die wir eingebettet sind und die uns repräsentieren. Ob sie nun Opfer von Drohnenangriffen oder von Waffenverkäufen an Saudi-Arabien sind, oder ob sie obdachlose Kinder auf den Straßen von San Francisco oder Los Angeles sind, ... Es gibt eine große und tiefe Kluft zwischen den Anliegen der Alltagsmenschen und dem durchschnittlichen Integralisten, und das untergräbt die Glaubwürdigkeit von Integral AQAL und seinen Anhängern.«
... dann begeht er den Fehler, dass er WILL, dass die gesamte Gesellschaft bitte sofort auf jenen Entwicklungsstand zu sein habe, auf der sich ein Integraler befindet, der Teil dieser Gesellschaft ist. Aber auch Integrale können nicht zaubern.
Und zu seiner Aussage, die Glaubwürdigkeit von Integral AQAL würde damit untergraben schreibt er selbst vorher ja schon:
»... diese Menschen kümmern sich nicht um Integral, Integralisten, den zweiten Rang oder die Aufklärung. Was sie interessiert, ist die Moral ihrer alltäglichen Interaktionen und der Grad der ethischen Besorgnis, den ihre Regierung gegenüber ihrem Bedürfnis nach einem existenzsichernden Lohn und erschwinglicher Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten für sich und ihre Familien zeigt.«
Und genau daran zu arbeiten ist die Aufgabe der Integralen, was zugegebenermaßen und bedauerlicherweise viele der im Prozess des Lernens steckenden und sich bereits Integral wähnenden Menschen nicht tun. Aber damit müssen wir als Integrale eben auch umgehen lernen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Hybris der »Erleuchteten«, wie ich es nennen würde.
Dies teilt sich für mich in zwei Fragmente auf: Der erste Teil ist die Hybris mancher Integraler zu meinen, aufgrund spiritueller Erfahrungen, die Wahrheit zu kennen:
»Wenn jemand behauptet, er habe Zugang zu dieser [absoluten Wahrheit], ... dann gelten moralische Normen nicht ...«
... was ich wieder in dieses generelle Problem jedes Lernprozesses einordnen würde, ohne es natürlich damit entschuldigen zu wollen. Aber reife Integralität sollte gerade über jeden Wahrheitsanspruch erhaben sein. Schließlich wurden auf der grünen Ebene bereits die »Großen Erzählungen« von Strukturalismus und Konstruktivismus dekonstruiert. Andererseits darf man aber auch nicht übersehen, dass auf Ebene gelb eine neue »große Erzählung« (entwicklungspsychologische Wertehierarchie) auf den Trümmern dieser Dekonstruktion wieder aufgebaut wurde und man nicht den Fehler machen darf, diese mit den Erzählungen der orangenen Ebene zu verwechseln.
Das zweite Fragment dieses Vorwurfs liegt in folgendem:
»Was ... bewirkt, ... [dass sie] Wissenschaft ignorieren können, die nicht mit ihren mystischen Erfahrungen übereinstimmt. ... Das ist es, was Wilber mit der Evolution getan hat, indem er das Auge des Geistes benutzt hat, um “Eros als Geist-in-Aktion” als teleologische Erklärung für die Evolution zu bestätigen, während er die zunehmenden wissenschaftlichen Beweise, dass dies einfach nicht wahr ist, ignoriert und außer Acht lässt.«
Nun, ich kenne sicherlich nicht jedes Detail von Wilbers »Primat des Bewusstseins« als angeblichen teleologischen Hauptantrieb der Evolution. Aber ich habe mit meinem evolutionären Idealismus einen ähnlichen Ansatz, der eine Teleologie des Kosmos beinhaltet, die aber in jedem Detail mit einer scheinbar zufälligen Evolution, wie sie die Wissenschaft beweist, kompatibel ist.
Dillards Vorwurf geht dann sogar so weit, dass er Wilber vorwirft, ...
»... damit eine künstliche Dualität zwischen zwei irrealen Bereichen .. [zu erschaffen]: Idealismus und Materialismus.«
... was ich nun überhaupt nicht nachvollziehen kann, weil es IMHO gerade Wilber mit seiner integralen Theorie geschafft hat, eine monistische Ontologie zu entwerfen, die weder idealistisch noch materialistisch ist.
Aus diesem Grund kann ich auch – aus dem bisher Gesagten hoffentlich nachvollziehbar – den nächsten Vorwurf nicht zustimmen, weil für mich Wilbers Position eindeutig transrational ist.
»Damit etwas trans-rational sein kann, muss es das Rationale einschließen. Aber Wilber antwortet nicht auf die Wissenschaft der Evolution. Stattdessen besteht er einfach darauf, dass seine Position postrational und transpersonal ist.«
Vielleicht habe ich da bei Wilber etwas überlesen. Oder er beachtet vielleicht Forschungsergebnisse aus der Epigenetik, die Joseph Dillard nicht bekannt sind. Ich kann das nicht beurteilen, es würde mich aber sehr wundern, wenn Wilber Forschungsergebnisse zur Evolution ignorieren würde.
Joseph Dillard fasst nun seine Vorwürfe so zusammen:
»[Integral AQAL] überschätzt ernsthaft und massiv den Grad der Gesamtentwicklung von Integralisten, während es die Relevanz von Tetra-Mesh auf der moralischen Linie ignoriert oder außer Acht lässt. Das Ergebnis ist Hybris, Exzeptionalismus und Elitismus, der die Glaubwürdigkeit von Integral für Nicht-Integralisten zerstört.
Die Lösung für dieses Problem ist einfach. Zu erkennen und ernst zu nehmen, dass, während die kognitive Linie in der persönlichen Entwicklung führt, die moralische Linie in unserer kollektiven und allgemeinen Entwicklung führt.«
Er beachtet dabei eben nicht die von mir weiter oben angeführten prinzipiell unlösbaren, ethischen Konflikte und tut so, als wäre die Love&Peace-Einstellung der Hippiebewegung, die eindeutig dem grünen Meme zuzuordnen ist, das Ende der Fahnenstange der moralischen Entwicklung. Dabei ist die Transformation auf die nächste Ebene nur durch die Erkenntnis des Paradoxons dieser Einstellung möglich.
Auch wenn er danach ausführt:
»Die persönliche Entwicklung ist aufgrund der Beziehungen im äußeren kollektiven Quadranten von unserer kollektiven Entwicklung abhängig. Um es in einem buddhistischen Rahmen auszudrücken, ist das grundlegende Prinzip pratityasammupada – interdependente Co-Kreation. Ohne unsere Brüder und Schwestern kommen wir nicht weiter. Persönliche Erleuchtung, ohne die Ärmsten hochzuheben, ohne für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, ist einfach grandios und narzisstisch.«
... gebe ich ihm in der Theorie absolut recht. Sie ist »true but partial«. Denn genauso gilt die Umkehrung. Kollektiv und Individuum sind nicht in der einen oder der anderen Richtung mit einer Ursache-Wirkung-Einbahnstraße verbunden, sondern Partner in einem prozesshaften Tanz gegenseitiger Abhängigkeiten.
In der Praxis zu fordern, dass das Kollektiv zuerst auf ein bestimmtes Level gebracht werden muss, bevor man sich erfolgreich um die eigene Fortentwicklung kümmern kann, bedeutet, dass wir damit gerade die AQAL-Theorie, die uns zu dieser Erkenntnis gebracht hat, ignorieren, indem wir so tun, als könnten alle Menschen sofort alle Entwicklungsebenen überspringen und würden – wenn unsere Politik nur ausreichend sozial ist – sofort auf Grün springen.
Natürlich ist unbestritten, dass mit sozialerer Politik sehr viel erreicht werden könnte. Klar sollte aber auch ihm sein, dass es keinen Integralen gibt, der diktatorisch die Weltpolitik determinieren kann, um das umzusetzen. Wäre jedoch einer von den Integralen in einer solchen Position, wäre er augenblicklich mit den prinzipiell unlösbare, ethischen Konflikten konfrontiert, die Kompromisse in Form von tragischen Trade-Offs erforderlich machen, wie Präsident Obama. Die ethischen Paradoxa der Wirklichkeit lassen sich nicht mit simplifizierter Moral lösen, auch wenn es »von unten« so aussehen mag.
Der nächste Kritikpunkt betrifft einen völlig anderen Punkt und macht damit einen neuen Themenkomplex auf. Trotzdem möchte ich kurz auch darauf eingehen. Denn in diesem Abschnitt thematisiert Dillard einen Bereich, in dem ich selbst langjährige praktische Selbsterfahrung habe.
»Seine Idee der Integration des Träumens, die Wilber vorschlägt, ist entweder die Kolonisierung durch die Wachidentität über das luzide Träumen oder ihre Auslöschung durch das Erreichen des meditativen klaren Gewahrseins während der Meditation. Keiner der beiden Ansätze respektiert die Träume und begegnet ihnen zu ihren eigenen Bedingungen. Keiner der beiden Ansätze nimmt das Träumen als einen gleichwertigen Bewusstseinszustand ernst. AQAL versäumt es daher, eine Methodik zur Integration des Traumzustandes anzubieten. Integral will direkt zum Transpersonalen springen, ohne den Traumzustand zu integrieren.«
Soweit ich mich erinnern kann, beschreibt Wilber in »Integrale Spiritualität« ‚Meditation auf eine Form‘ oder ‚Visualisierungen‘ als eine Variation des Traumzustandes. Und ich selbst erlebe neben formloser Meditation und luzidem Träumen immer wieder die schamanische Kraft des subtilen Traumzustandes. Insofern glaube ich nicht, dass Wilber den Traumzustand weniger integriert hat, als ich es tue. Meditation auf eine Form‘ oder ‚Visualisierungen‘ finden eben NICHT als luzide Träume mit wachem Ich-Bewusstsein statt. Der Unterschied zu normalen Träumen liegt lediglich in der mentalen Vor- und Nachbereitung des Geträumten. Insofern integriert man damit den Traum als das, was er ist und versucht nicht, ihn mit anderen Zuständen zu »kolonisieren«.
Nach diesem Schwenk zu einem anderen Thema kommt er wieder zu seiner Vorstellung von monolithischer Moral zurück und schreibt:
»Ein weiterer blinder Fleck ist das verbale Bekenntnis von Integral zum Weltzentrismus, aber ein verhaltensmäßiges Bekenntnis zum Ethnozentrismus.«
Auch hier wird von ihm als »blinder Fleck« bezeichnet, dass man von einem Bekenntnis zum Weltzentrismus die AQAL-Erkenntnis der Entwicklungshierarchien nicht subtrahiert. Es wird also ein weniger umfassendes Weltbild als das idealere hingestellt. Eines, das im Verhalten auf die Berücksichtigung der offensichtlichen Entwicklungsebenen verzichtet, denn die wären schließlich nur exzeptionalistische Hybris. Dies ist aber das Meme von Grün. Womit ich natürlich wieder gegen seine Immunisierung verstoße, wie er selbst gleich im nächsten Absatz nochmal ausführlich erklärt:
»Weltzentrismus muss praktiziert werden, um in einer Welt ... real zu sein, aber es ist unmöglich, darauf hinzuweisen, ohne als Social Justice Warrior geteert zu werden, am Mean Green Meme hängen zu bleiben, ein Unterstützer der Autokratie zu sein oder den gefürchteten Vorwurf des Antisemitismus zu erhalten.«
Und weiter schreibt er, um das zu präzisieren:
»Versuchen Sie, in einem integralen Forum Positives über China, Xi, Russland, Putin oder den Iran zu sagen, und sehen Sie, was passiert. Versuchen Sie, in einem integralen Forum für die Rechte der Palästinenser einzutreten, und sehen Sie, was passiert.«
Dies erinnert mich leider sehr stark an das »das wird man doch noch sagen dürfen« der rechten Reaktionäre, die beleidigt reagieren, wenn sie ihre patriarchalen Rollbacks nicht unwidersprochen verlautbaren dürfen. Meinungsfreiheit bedeutet auch in integralen Foren, dass man Widerspruch aushalten muss. Jede Meinung kann nur so frei sein, wie derjenige, der sie äußert, eine gegenteilige Meinung verträgt. Aber stattdessen wird jenen, die hier den Widerspruch wagen, (diktatorischer) Opportunismus vorgehalten:
»Integralisten, von der Spitze an abwärts, ... weigern sich, das Gruppendenken herauszufordern, ...«
Und weiter heißt es:
»Integral vermeidet Verantwortung durch eine Minimierung, Ignorierung oder Abwertung der Wichtigkeit von sozialer Gerechtigkeit.«
Begründet wird dieser Rundumschlag gegen die Integralen mit einer sozialen Dringlichkeit, die ich durchaus nachvollziehen kann, die aber an den Umständen nichts ändert.
»In welchem Jahrhundert sollen wir denn die positiven Ergebnisse dieser Agenda sehen? Hat jemand die Integralisten darüber informiert, dass der Westen bereits auf geliehener Zeit lebt?«
Genau diese Argumente verwende ich auch immer, aber mit gegenteiligen Schlussfolgerungen. Es geht nicht darum, Love&Peace in der praktischen Politik einzufordern, sondern dass wir mit Augenmaß die Entwicklungsstufen der Protagonisten des Weltgeschehens adäquat beachten und darauf mit unseren Möglichkeiten und in unserem Umfeld drauf reagieren. Und zwar so, dass wir nicht wie die beleidigten Leberwürste beklagen, dass niemand auf uns hört und davon überzeugt sind – wie es Ronan Harrington im letzen EVOLVE (Nr.30) so treffend ausdrückte – »Wenn nur der Rest der Welt so denken und handeln würde wie ich, dann wäre die Welt ein besserer Ort.«, sondern so, dass wir als integrales Vorbild die Ebenen verstehen, ohne mit den Handlungsmotivationen einverstanden zu sein, gleichzeitig aber die Widersprüchlichkeit der Ethik der unterschiedlichen Ebenen akzeptieren.
Dillard geht sogar so weit Wilber mangelnde persönliche Moral vorzuwerfen, weil er nicht seiner monolithischen Illusion von Moral folgt:
»Es gibt jedoch wenig Zweifel, dass Wilber dazu tendiert hat, seine moralischen Fehler zu übersehen. ...«
Nur, um danach den »Mangel an Moral« mit den meritokratischen Tendenzen der wirtschaftsliberalen Gesellschaftsordnung zu verbinden:
»Anstatt die Probleme mit der hinterherhinkenden moralischen Linie zu beheben, werden wir dazu gedrängt, auf den Linien der kognitiven, selbstsystemischen und spirituellen Intelligenz voranzurennen.«
Ich kann mir das nur so erklären, dass Therapeuten und Coaches das Meme der grünen Ebene zu ihrer Kernkompetenz gemacht haben:
- umfassende Toleranz
- wertungsfreie Empathie
- die Beobachtung des »objektiven« Beobachters
- die Dekonstruktion pathologischer »Gewissheiten«
Dies scheint zur Betriebsblindheit zu führen und im eigenen Inneren die Meinung zu festigen »Wenn nur der Rest der Welt so denken und handeln würde wie ich, dann wäre die Welt ein besserer Ort«, ohne die Erkenntnisse über Entwicklungsebenen in AQAL mitzubedenken.
Stattdessen wird »Verständnis« mit »Einverständnis« gleichgesetzt, was dazu führt, dass man allen, die die Ebenen nicht nur theoretisch verstanden haben, sondern auch praktisch anwenden, Hybris und Exzeptionalismus vorwirft: Wer nicht mit den Motivationen und Handlungen anderer einverstanden ist, der hat sie wohl nicht verstanden. Dass man verstehen kann, ohne einverstanden zu sein, kommt in dem Weltbild von Grün noch nicht vor.
Die Erfahrungen im direkten therapeutischen Dialog mit einem einzelnen Gegenüber, in dem ehrliches Einfühlen und empathisches Verständnis wichtige Mittel zur Vertrauensbildung sind, werden danach auf gesellschaftliche Mechanismen übertragen und jedes ethisch-moralische Dilemma, dass sich aus der Notwendigkeit kollektiver Entscheidungen ergibt, wird konsequent ausgeblendet:
»Dies ist ein kulturelles Phänomen, das keineswegs auf Integral beschränkt ist. Vielmehr ist es ein weiterer Beweis dafür, dass Integral ein Geschöpf des Gruppendenkens ist, in das es eingebettet ist.«
Und in einer Prä-Trans-Verwechslung wird jeder integrale Gedanke, der nicht mit den eigenen übereinstimmt, in den unteren, orangenen Ebenen verortet:
»Die Wertschätzung herausragender Leistungen, ... anstatt die gleiche, wenn nicht sogar eine größere Betonung auf eine ausgewogene Entwicklung zu legen, legt einen Schwerpunkt auf herausragende Leistungen, Selbstkontrolle und Stärken, während Einschränkungen, Versagen, Unzulänglichkeiten und Schwächen minimiert oder ignoriert werden.«
Wobei ich nicht ausschließen will, dass einige der Integralen tatsächlich diesem neoliberalen Leistungskonzept der orangenen Ebene verfallen sind. Und tatsächlich hat Dillard recht mit der Diagnose:
»Das ist ein sicheres Rezept für persönliche, kollektive, nationale und zivilisatorische Überforderung, schließlich Implosion und Zusammenbruch.«
Aber das hat nichts mit AQAL zu tun.
Als nächster Punkt geht er auf die Situation während der Coronakrise ein. Wobei ich nicht genau verstehe, was er genau kritisiert und welche Alternativen ihm lieber wären. Will er mehr Diktatur wagen, wie in China? Oder mehr Freiheiten für das Individuum zum Preis höherer Todeszahlen und den partiellen Zusammenbruch des Gesundheitswesens, wie es Querdenker vorschlagen (»Wir dürfen den Tod nicht aus dem Leben verdrängen!«)?
Klar ist die Kritik am neoliberalen Umbau des Gesundheitswesens und dieser schließe ich mich absolut an. Aber wie man erkennen kann, gerät der Neoliberalismus durch die Coronakrise ohnehin in die Kritik und es ist zu hoffen, dass dies auch nach der Krise anhalten wird und man daraus lernt. Aber weder mehr individuelle Freiheiten, wie sie die Querdenker fordern, noch mehr Diktatur, die er implizit herbeisehnt, wenn er China für deren Krisenmanagement lobt, wäre eine brauchbare Alternative dazu.
Einen Kritikpunkt verstehe ich ganz und gar nicht: Dass die Farben von Spiral Dynamics keinem ontischen System folgen, liegt daran, dass sie tatsächlich und auch absichtlich außer der Unterscheidung der Stufen explizit keinen tieferen Sinn enthalten. Das zu kritisiere ist, als würde man den Elektrikern vorwerfen, dass die Farben Gelb und Grün keinerlei physikalischen Bezug zur Schutzfunktion des Erdleiters haben. Da ist die Kritik lächerlicher als das Kritisierte. Wilber hat zumindest versucht, die Farben der Abfolge der Lichtfrequenzen anzugleichen.
Auch den Vorwurf, die Begriffe »Geist«, »Spiritualität«, »Gott« und »Bewusstsein« wären zu schwammig und Wilber hätte »in Integrale Spiritualität fünf verschiedene Definitionen von Spiritualität« analysiert, verstehe ich nicht.
Ist es nicht so, dass man von einem Versuch einer genaueren Definition sprechen könnte, wenn Wilber die verschiedenen Bedeutungen durchleuchtet? Wie kann man dem System des Integralen »intellektuelle Unehrlichkeit« vorwerfen, wenn es ein philosophisches Problem darstellt, die durch diese Begriffe beschriebenen Gebiete eindeutig zu definieren und AQAL (vergeblich?) versucht, dies zu präzessieren?
Kommen wir zum nächsten Punkt:
»Die Menschheit braucht kein großes Erwachen zu AQAL und zu ihrer spirituellen Natur; was sie braucht, ist ein praktischer, weltlicher Gehorsam gegenüber internationalem Recht und kollektiven Normen, so dass die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse erfüllt und die Menschenrechte respektiert werden.«
Ich sehe den Widerspruch nicht, den er hier aufspannt.
Natürlich ist der Prozess einer praktischen Verwirklichung internationalen Rechts und der Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse eine wichtige Angelegenheit. Aber was davon sollte dem entgegenstehen, dass trotzdem ein Teil der Menschheit an der Vervollkommnung der Spirale von AQAL arbeitet?
Ich denke, seine Prä-Trans-Verwechslung wird deutlich bei folgendem Absatz:
»Wenn wir für eine transzendierende Weltsicht eintreten, ... aber unsere Beteiligung an Kollektiven, die unmoralisch oder amoralisch sind, ignorieren, dann ist die Wahrheit, dass unsere Gesamtentwicklung ... irgendwo auf der dysfunktionalen Seite der ... Entwicklungsstufen feststeckt.«
Die Emergenz von Gelb gegenüber der Ebene Grün liegt gerade darin, dass man erkennen und anerkennen kann, dass es verschiedene Entwicklungsebenen gibt, die man nicht ausgleichen kann, indem man alle Unterschiede egalisiert. Die Emergenz, die über grün hinaus geht, liegt in der Arbeit an der gesamten Spirale als Förderband. Zuerst alle Ungerechtigkeiten auszugleichen, die gerade durch die Tatsache entstehen, dass wir Menschen nicht alle auf derselben Entwicklungsstufe stehen können, ist ein sinnloses Unterfangen, das die gesamte Entwicklung nicht nur bremsen, sondern komplett aufhalten würde.
»Es ist, als ob das Konzept, dass man eine niedrigere Ebene einbeziehen muss, bevor man ihre Transzendenz behaupten kann, im integralen Denken nicht existiert.«
Hier scheint er selbst etwas zu verwechseln. Denn natürlich muss man die niedrigeren Ebenen einbeziehen, aber man muss auch anerkennen, dass sie eben niedrigere Ebenen sind und man sich nicht mal so aus dem Handgelenk hochhieven kann, um die Unterschiede zu egalisieren.
Es ist, als ob er uns erzählen möchte, dass wir nicht das Recht haben, uns weiter zu entwickeln, solange noch große Teile der Bevölkerung auf Stufen stehen, die niedriger sind als unsere eigene.
Aber man muss ihm zugute halten, dass er nicht nur kritisieren will, sondern auch Vorschläge macht, was man besser machen könnte.
Allerdings liest sich der entsprechende Abschnitt wie die Beschreibung der ersten Pathologie der Transformation von Grün nach Gelb: die Verweigerung durch Prä-Trans-Verwechslung. Die Anerkennung der aus den Ebenen entstehenden Hierarchien durch Stufe Gelb wird mit der Beförderung bestehender Hierarchien durch Stufe Bernstein/Blau und Orange gleichgesetzt.
»Klassenunterschiede sind zwar real, existieren aber hauptsächlich, um die Vorrechte derjenigen zu bewahren, die Status, Macht und Reichtum haben. Es ist in ihrem Interesse, uns dazu zu bringen, das Thema von den Klassenunterschieden auf die Erleuchtung oder irgendetwas anderes zu verlagern, damit ihre Position als der Vogel an der Spitze des Baumes unangefochten bleibt und die Vögel auf den unteren Ästen nicht merken, was ihnen auf den Kopf fällt.«
Dann kommt wieder die Betriebsblindheit der grünen Kernkompetenz zum Vorschein, denn das von ihm vorgeschlagene »viel authentischer integrale Modell« sieht so aus:
»Es priorisiert die humanistischen Bausteine der Moral: Respekt, Reziprozität, Vertrauenswürdigkeit und Empathie, statt eines intellektuellen Fokus auf Weltanschauung und Kognition.«
Es werden die prinzipiell positiven Emergenzen von Grün im zwischenmenschlichen Bereich wie umfassende Toleranz, wertungsfreie Empathie, die Beobachtung des »objektiven« Beobachters und die Dekonstruktion pathologischer »Gewissheiten« auf den gesamten Bereich des AQAL ausgedehnt.
Die Erkenntnis, dass in kollektiven Entscheidungen die Unterschiede der Ethik- und Moralformen miteinbezogen werden müssen, und dass Menschen unterschiedlicher Entwicklungsebenen in ihren Bedürfnissen und in ihren Handlungsintentionen unter einem gesetzlichen und handlungspolitischen Rahmen subsumiert werden müssen, wird dabei ignoriert.
Solange Obama militärischen Mitteln nicht abschwört, ist er kein entwickelter Mensch. Er unterwirft sich also nicht den realen Fakten der prinzipiell unlösbaren, ethischen Konflikte. Er versucht nicht, diese Paradoxien mit Kompromissen in Form von tragischen Trade-Offs zu lösen. Nein, er ist ganz simpel amoralisch und böse.
So einfach ist die Welt: »Wenn alle so denken und handeln würden wie ich, wäre die Welt ein besserer Ort.« Deshalb auch die weitere Beschreibung des besseren integralen Systems:
»Es bewegt sich von einem kognitiv geerdeten Multiperspektivismus zu einem erfahrungsgegründeten Vier-Quadranten-Multiperspektivismus.«
Was natürlich beinhaltet, dass man die Paradoxa weiterhin leugnet, anstatt auf sie zu reagieren. Ich brauche nicht zu betonen, dass die Wirkung gleich null wäre, wenn man die Welt nicht versteht und sie vorsichtig manipuliert, sondern nur will, dass sie so zu sein hat, wie man sie haben will:
»Es weigert sich, für “das kleinere Übel” zu stimmen und tritt stattdessen prinzipiell für Weltzentrismus und soziale Gerechtigkeit ein.«
Ein schöner grüner Gedanke.
Können wir uns jetzt bitte weiterentwickeln?