Gerhard Höberth

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Konstruktivismus


Samstag, 2. April 2016


1. Konstruktivismus


Vor Kurzem wurde ich wieder mit einem Neurobiologen konfrontiert ...

"Farben oder Gerüche gibt es erst als Folge unserer Wahrnehmung, dahinter stehen tatsächlich Wellenlängen von Licht oder Moleküle in der Luft . Denke über Anthropomorphismus nach. Die Welt da draußen ist erschreckend tot.«
Darauf möchte ich mich kurz einlassen, weil es immer wieder als ›redliches Argument einer glaubensfreien Vernunft‹ angesehen wird: »Farben gibt es nicht, nur Lichtfrequenzen.« »Gerüche gibt es nicht, nur Moleküle, auf die unsere Nase reagiert...« Usw. In Wirklichkeit aber entspringt es dem fundamentalistischen Glauben an eine materialistische Wirklichkeit, zu der Mensch nur einen konstruktivistischen Zugang hat. Deshalb geht man davon aus, dass die Welt ganz anders ist, als sie uns erscheint. Deshalb möchte ich den Konstruktivismus mal kurz dekonstruieren ;-)


1.1    Konstruktivismus?


Natürlich sind phänomenale Wirklichkeiten keine eins zu eins Spiegelungen der realen Außenwelt. Die flexible Struktur jedes biologischen Systems reagiert auf die Wechselwirkungen mit der Umgebung äußerst spezifisch. So wird bei einem Menschen Licht nur von den Augen wahrgenommen, Schall nur von den Ohren, usw. Viele Einflüsse aus der Umgebung werden so durch den Organismus in bestimmte Bahnen gelenkt. Deshalb interpretiert zum Beispiel mein Gehirn ein Signal, das von meinem Auge kommt, immer als Licht, auch wenn der Reiz dadurch ausgelöst wurde, weil ich eine Faust aufs Auge bekam.
Da jeder Organismus seine eigene Struktur hat, welche die Signale der Welt in bestimmte Kanäle leitet, baut sich jeder Organismus seine eigene Welt auf. Viele Dinge werden von manchen Organismen gar nicht wahrgenommen und sind damit auch keine Bestandteile der Welt dieser Wesen. So ist Licht für viele Tiefseebewohner nicht vorhanden. Ihre Welt ist selbst dann lichtlos, wenn sie mit einem starken Scheinwerfer angestrahlt werden. Licht ist ihrem System fremd, es kommt in ihrer Welt nicht vor. Man kann daher auch nicht sagen, dass sie im Dunkeln leben. Dunkelheit ist der Gegenpol von Licht. Wenn es in einer phänomenalen Welt kein Licht gibt, dann gibt es auch keine Dunkelheit.
Mit anderen Worten, die Welt, in der wir leben, ist von unserer körperlichen Organisation abhängig. Wenn wir andere Sinne hätten, dann würden wir in einer anderen Welt leben. Andererseits ist aber diese körperliche Organisation von der Welt abhängig, da sie während der Evolution in enger Kopplung mit ihr entstanden ist. Wäre also die Welt für mich tatsächlich eine gänzlich andere, wenn ich einen andern Körper hätte?
Können wir unseren Wahrnehmungen vertrauen? Wenn wir nichts anderes im Bewusstsein haben, als unsere eigene Körperlichkeit, wie sollten wir darauf vertrauen, dass diese Körperlichkeit ein reales Abbild der uns umgebenden Wirklichkeit bietet? Wenn jedes Signal, dass von Sehnerv eintrifft, als Licht interpretiert wird, dann ist Licht vielleicht etwas ganz anderes, als das, was wir wahrnehmen.
Wir sollten hier einen kurzen Abstecher in die Erkenntnistheorie machen. Wie weit ist die Welt, wie wir sie sehen, mit der Welt identisch, wie sie tatsächlich ist? Ist die Welt das, was wir glauben, dass sie sei? Konstruktivisten meinen, dass wir die Welt in der Wahrnehmung erst erfinden. Dass wir also die Welt keinesfalls so wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen, weil sie so ist wie wir sie sehen, sondern dass wir die Welt wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen, weil wir so sind, wie wir sind.


1.2     Blinder Fleck


Nehmen wir als Beispiel den Blinden Fleck. Wer kennt nicht den Versuch: Auf einem Blatt Papier sind zwei Punkte aufgemalt. Man schließt das rechte Auge und sieht nur mit dem linken Auge auf den rechten Punkt. Dann ändert man langsam die Entfernung zum Papier und – schwupp – verschwindet der linke Punkt plötzlich spurlos von der Bildfläche. Die physikalische Erklärung ist einfach: Das Bild des Punktes fällt auf der Netzhaut des Auges genau in jenen Bereich, der unempfindlich für  Licht ist, weil dort die Sehnerven zusammen laufen und das Auge verlassen.
Das Verwunderliche für die Konstruktivisten ist aber auch nicht, dass wir dort keinen Punkt mehr sehen, das Verwunderliche für sie ist, dass wir dort kein Loch in der Welt empfinden. Wir sehen nicht, dass wir dort nichts sehen. Die Welt wird uns als lückenloses Kontinuum präsentiert. Das heißt für die Konstruktivisten, dass unser Gehirn dort eine Welt erfindet, um diese physisch bedingte Lücke in der Wahrnehmung zu füllen.
Nun wird damit unseren Sinnesorganen – und dem die Sinneseindrücke verarbeitenden Gehirn – aber vorgeworfen, dass uns die Welt so erscheint, wie sie ist, und nicht so, wie sie uns eigentlich aufgrund unserer Sinneskonstruktion erscheinen müsste. Ja, Sie haben richtig gelesen: Der Vorwurf ist, dass wir die Welt sehen, wie sie tatsächlich ist. Denn wir müssten dort ein Loch sehen, wo keines ist. Aber diese Argumentation ist insofern seltsam, weil sie danach umgedreht wird. Es gilt als Beweis dafür, dass die Welt nur scheinbar so ist, wie wir sie wahrnehmen.
Vielleicht müssen wir uns das noch mal ganz genau vor Augen halten. Die Theorie des Konstruktivismus wirft dem Gehirn vor, dass es dem Bewusstsein Dinge vorgaukelt, die nicht da sind, weil es die Lücke in der Wahrnehmung mit der Illusion einer Wahrnehmung auffüllt. Denn schließlich müssten wir – so paradox es klingt – dort ein Loch wahrnehmen, wo die Welt gar kein Loch hat.
Die Tatsache, dass wir mit Hilfe der Fähigkeiten unseres Gehirns in der Lage sind, einen „Konstruktionsfehler“ des Auges auszugleichen, wird von den Konstruktivisten zum Argument umgedreht, dass wir der Wahrnehmung der Welt nicht trauen können, weil uns das Gehirn im Hinblick auf dieses Loch schließlich auch täuscht.
Wir können unserem Gehirn also nicht trauen, weil es uns ein realistisches Bild der Welt präsentiert. So könnte man den Standpunkt der Konstruktivisten zusammenfassen.
Sehen wir uns doch nochmals genau an, was es mit dem blinden Fleck auf sich hat:
Der blinde Fleck liegt in einem Bereich der Netzhaut, der vom Fokus unserer Aufmerksamkeit weit genug entfernt ist, als dass er uns stören könnte. Es bedarf im Gegenteil einer ziemlichen Verrenkung, uns die Auswirkung des blinden Flecks vor Augen zu führen. Wir haben zwei Augen und der blinde Fleck jedes Auges fällt in einen anderen Bereich der visuellen Wahrnehmung. Darum müssen wir ein Auge schließen, um den Punkt aus unserer Wahrnehmung zu entfernen. Zudem sind unsere Augen beweglich und fokussieren genau jenen Teil der Welt, der uns interessant erscheint. Die Wahrnehmung der Welt ist somit durch den blinden Fleck in keiner Weise beeinträchtigt. Zumindest nicht mehr, als auch die Tatsache beeinträchtigt, dass wir hinten keine Augen haben. Wir haben doch auch nicht den Eindruck, dass die Welt hinter uns nicht existiert, nur weil wir dort nichts sehen. Das Bild der Außenwelt kommt durch die Überlagerung zweier Bilder und der Beweglichkeit der Augen genau so im Gehirn an, wie die Außenwelt tatsächlich ist. Augen und Gehirn arbeiten damit in einer Weise zusammen, die eine größtmögliche Genauigkeit in der Wahrnehmung der Welt ermöglicht, trotz des physischen Mankos des blinden Flecks.
Ist es nicht paradox, wenn diese Großartigkeit der Zusammenarbeit und relativen Objektivität unserer Empfindungen als Argument gegen die Richtigkeit der Weltwahrnehmung verwendet wird?
Der Fehler der Konstruktivisten liegt in der Fragmentierung des Sachverhalts. Da gibt es die Wahrnehmung, die zunächst in Subjekt und Objekt aufgeteilt wird. Dann wird das Subjekt nochmals in Geist und Körper getrennt und schließlich wird noch der Körper in Auge und Gehirn zerlegt. Die Richtigkeit unserer Weltwahrnehmung wird dann auf zwei Fehler zurückgeführt, die sich gegenseitig aufheben. Das Auge macht den ersten Fehler und erzeugt das Loch. Das Gehirn macht den zweiten Fehler und füllt das Loch wieder. Man kennt das ja aus der Mathematik: Man kann trotz mehrerer Fehler zum richtigen Ergebnis kommen, wenn diese sich gegenseitig aufheben. Ihre Schlussfolgerungen ziehen die Konstruktivisten dann mit einem Fokus auf die Fehler und nicht auf die Richtigkeit der Wahrnehmung. Dies kann man aber nur tun, wenn man ausblendet, dass der Prozess der Wahrnehmung eine untrennbare organische Einheit darstellt, der noch dazu in engster evolutionärer Kopplung mit der Umwelt entstanden ist.


1.3     Farbige Schatten


„Aber“, sagt da der Konstruktivist, „es gibt noch andere Beispiele dafür, wie unser Gehirn uns betrügt“, und präsentiert uns das Phänomen der farbigen Schatten. 1672 bemerkte Otto von Guericke, dass sein Finger blau aussah, wenn er ihn im Schatten der aufgehenden Sonne betrachtete. Daraufhin beschrieb er als erster dieses Phänomen. Wenn wir einen Gegenstand in einem weiß ausgeleuchteten Raum mit einer Farbe zusätzlich anstrahlen, dann wirft dieser Gegenstand einen Schatten in der Komplementärfarbe. Wenn also eine Vase im weißen Licht vor einer weißen Wand steht und zusätzlich rot beleuchtet wird, wirft sie anscheinend einen grünen Schatten. Messen wir aber das Licht des grünen Schattens mit einem Spektrometer, stellt sich heraus, dass es weiß ist und nicht grün. Dagegen ist das Weiß der Wand neben dem Schatten nicht rein weiß, sondern leicht rot. Unsere Sinne haben uns getäuscht. Unsere Wahrnehmung farbiger Objekte ist unabhängig von der tatsächlichen Zusammensetzung des Lichtes. Na, wenn das kein Beweis ist, dass unser Gehirn uns betrügt ...
Aber auch hier wird den Sinnen und dem interpretierenden Denken eine Fähigkeit zur natürlichen Abbildung der Außenwelt zum Vorwurf gemacht und als Argument in sein Gegenteil verkehrt. Das beschriebene Phänomen ist der "natürliche Weißabgleich". Dieser führt uns zu der Fähigkeit, bei allen Lichtverhältnissen optimale Farbwahrnehmungen zu haben. Schließlich war es für uns immer schon relevant einen reifen Apfel in der Mittagssonne genauso zu erkennen wie bei Abendrot. Das Umgebungslicht darf keinen Einfluss auf die Wahrnehmung der Farbe haben. Aber genau diese Fähigkeit wird hier kritisiert.
Die Konstruktivisten meinen, dass dies nicht einfach als simple optische Täuschung, oder als Fehler in der Weltwahrnehmung abgetan werden kann. Für sie ist es ein Beweis für die Erzeugung der Welt durch unser Gehirn. Erkenntnis, so meinen sie, ist das Erfinden einer Welt, die es so nicht gibt.
Aber die unbewussten kognitiven Fähigkeiten, welche den natürlichen Weißabgleich bewirken, sind im Laufe der Evolution genau zu dem Zweck entstanden, dem Subjekt eine reale Welt abzubilden und nicht dazu, dass es sich seine eigene Welt basteln kann.
Sehen wir uns das noch mal genau an: Was könnte die Aussage „dieser Gegenstand ist weiß“ bedeuten?
Er bedeutet genau genommen folgendes: Die Oberfläche dieses Gegenstandes reflektiert alles in der Umgebung vorhandene, für mich sichtbare Licht. Wir haben also zwischen drei Komponenten zu unterscheiden:
1.    Die Eigenschaft des Gegenstandes Licht zu reflektieren.
2.    Meine Fähigkeit, bestimmte Frequenzen des Lichtes zu sehen;
3.    Die Zusammensetzung des vorhandenen Umgebungslichts.
Punkt eins nehmen wir als gleichbleibend an und Punkt zwei ist durch meine Sinne vorgegeben. Was passiert nun, wenn sich Punkt drei – also die Zusammensetzung des Umgebungslichts – ändert? Dann sorgt der äußerst intelligente Weißabgleich des Gehirns dafür, dass die Farbe des Gegenstandes als gleichbleibend wahrgenommen wird. Sie bleibt ja auch tatsächlich gleich. Ohne diesen Weißabgleich wäre unsere Weltwahrnehmung weniger objektiv. Etwas als "Weiß" zu bezeichnen ist also keine objektive Aussage über die Frequenzen des vom Auge aufgenommene Lichts, sondern eine "objektive" Aussage über die Oberflächeneigenschaft des Gegenstandes. Diese Fähigkeit des Gehirns, Oberflächeneigenschaften bei sich verändernden Umgebungsbedingungen als gleichbleibend wahrzunehmen, wird nun zum Vorwurf umgedreht, dass nicht die tatsächlichen Lichtfrequenzen analysiert werden und damit die Realität falsch abgebildet wird.


1.4    Botschafter und Botschaft


Aber um die Lichtfrequenzen geht es beim Sehen doch überhaupt nicht. Licht ist ein Botschafter und nicht die Botschaft – das ist ein wichtiger Unterschied. Licht überträgt für uns die Farbeigenschaften der betrachteten Gegenstände. Dabei gilt dem Licht nicht unser primäres Interesse. Wir wollen etwas über den Gegenstand wissen, von dem das Licht reflektiert wird. Das Licht selbst ist dabei lediglich der Botschafter, der uns die Botschaft dieser Oberflächeneigenschaften übermittelt.
Konstruktivisten versuchen, uns zu erklären, dass nicht der Briefträger in uns verliebt ist, wenn er uns einen Liebesbrief aushändigt. Und dann schließen sie daraus, dass das Geliebtwerden selbst, also die eigentliche Botschaft des Liebesbriefes, eine Illusion sein muss, wenn der Briefträger uns nicht liebt.
Was am Sehen für den Sehenden wirklich interessant ist, ist nicht das Licht selbst, sondern die Farbeigenschaft des Gegenstandes. Und genau da leistet das Gehirn das, was es soll: die Abbildung einer Realität.
Aber natürlich hat der Konstruktivist noch Hunderte andere Beispiel auf Lager, die wir hier nun einzeln durchspielen könnten. Daher sollten wir uns ansehen, wo die grundsätzliche Problematik liegt. Dies wird meiner Meinung nach beim Unterseebootgleichnis deutlich. Dabei wird die Tatsache, dass wir nur unsere eigene Körperlichkeit erfahren und nicht die Außenwelt direkt, in einer Metapher verdeutlicht:
Ein Mensch übernimmt die Leitung eines fensterlosen Unterseebootes, auf dem er geboren wurde und das er Zeit seines Lebens nicht verlassen hat. Er kennt also nur das Innere seiner Behausung und hat keine Ahnung von der Unterwasserwelt, in der sich sein Boot befindet. Nun steuert er das Boot durch klippenreiche Küstengewässer. Würde man nun zu ihm sagen, dass es bewundernswert sei, mit welcher Präzision er sein Schiff durch die Klippen steuert, wäre er verwundert: „Welche Klippen“, würde er fragen, „ich achte nur darauf, dass sich die Zeiger an meinen Instrumenten hier im grünen Bereich bewegen. Das allein ist meine Aufgabe.“
Natürlich scheint es zunächst so, als wäre es tatsächlich völlig aussichtslos für den Steuermann, sich die Unterwasserwelt vorzustellen. Er hat ja lediglich die Anzeigen an seinen Messinstrumenten vor Augen. Es gibt keinen Kontakt zu jener Welt, die aus Klippen und Riffen besteht. Nur seine Instrumente und Anzeigetafeln stehen ihm zur Verfügung. Alles, was er sieht, sind Zeiger, Skalen und Warnlichter. Genauso, sagen die Konstruktivisten, geht es dem Geist. Er erkennt nicht wirklich die Außenwelt, sondern nur, welche Auswirkungen die strukturelle Kopplung der Sinne mit dieser Außenwelt auf die Organisation des eigenen Körpers hat. Wir erkennen nicht den Gegenstand, wenn wir ihn sehen. Ja wir erkennen nicht einmal das Licht, dass er reflektiert. Alles, was wir wahrnehmen, ist die Veränderung unserer körperlichen Organisation, die vom Licht in unserem Sinnensystem ausgelöst wird.
Aber dieses Gedankenmodell hinkt gewaltig. Erinnern wir uns, dass das einzig wahrhaftig Gegebene die Wahrnehmung selbst ist. Die Trennung zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenen, also die Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist bereits eine Abstraktion. Konstruktivismus aber nimmt diese Abstraktion als Basis und teilt das Subjekt selbst nochmals zusätzlich auf, in Körper (Sinnesorgane) und Geist (Zeuge). Es wird also die Abstraktion nochmals abstrahiert. Zwischen dem Zeugen (Steuermann) und der Umwelt (Klippen) wird noch ein dritter Faktor (Anzeigen im U-Boot) angenommen. Es gibt jetzt also nicht nur Subjekt und Objekt, sondern Subjekt, körperliche Organisation und Objekt. Konstruktivismus impliziert damit unterschwellig den Leib-Seele-Dualismus und versucht uns dann diese Abstraktion der Abstraktion als eigentliche, fatale Realität zu verkaufen.
Aber die Praxis zeigt eine ganz andere Realität: Wenn man einer Person eine Umkehrbrille aufsetzt, welche das Bild für die Augen auf den Kopf stellt, dann ist diese Person zwar am Anfang verwirrt, aber nach ein paar Stunden oder Tagen bemerkt sie den Unterschied nicht mehr. Das Bild wird virtuell umgedreht und ermöglicht so neuerlich eine wahrheitsgemäße Orientierung im Raum. Nimmt die Person dann die Brille ab, sieht sie jetzt ohne Brille die Welt auf dem Kopf stehen, bis sie sich wieder an die neue Situation gewöhnt hat. Gehirn und Sinnesorgane arbeiten im Feedback mit der Erfahrung als Einheit zusammen und erreichen damit eine größtmögliche Annäherung an die Wirklichkeit. Was uns als Beweis für den illusorischen Charakter der Wahrnehmung präsentiert wird, ist in Wahrheit ein Beweis für die Übereinstimmung unserer Wahrnehmung mit der realen Außenwelt unabhängig von der Fehleranfälligkeit der Sinnesorgane. Mit Hilfe von permanentem Feedback wird die Weltsicht auf ihre Stimmigkeit überprüft und nötigenfalls korrigiert.
Aber natürlich wird dabei der Kanal für die Sinne nicht verändert. Das Auge nimmt immer nur Licht wahr und das Ohr nur Schall. Daher ein anderes Beispiel: Es gibt viele Blinde, die das Gehör verwenden, um sich - ähnlich einer Fledermaus - über die Schallreflexionen ein „Bild“ ihrer Umgebung zu machen. Manche von ihnen, die nicht von Geburt an blind waren, glaubten zeitweise sogar, ihr Augenlicht wiedergewonnen zu haben, nachdem sie diese Methode erlernt hatten, so plastisch erschien ihnen der räumliche Eindruck der Welt.
Wie das geschehen kann, zeigt ein anderes Experiment: Bei einem Versuch wurde erblindeten Patienten eine Kamera auf die Stirn montiert und das Signal des aufgenommenen Bildes über eine kleine Platte mit elektrischen Impulsgebern auf die Zunge gelegt. Nach einiger Übung konnten die Probanden sogar Buchstaben und Zahlen lesen. Dabei wurde festgestellt, dass die Signale, die über die Zunge aufgenommen wurden, ihren Weg zum visuellen Kortex fanden. Die Blinden begannen über die Zunge zu sehen. Die Reize auf der Zunge verschwanden dabei immer mehr aus dem Bewusstsein und wurden von tatsächlich optischen Eindrücken abgelöst. Die Zwischenstufen der Informationsverarbeitung fallen demnach mit der Zeit aus der Bewusstheit heraus, um einem Abbild der Welt Platz zu machen.
Es gibt also in der Kette der Informationsübertragung zwischen Welt und Bewusstsein eine Instanz, welche die Informationen über die Welt zur ganzheitlichen Wahrnehmung einer Welt rückübersetzt. Egal welche und wie viele Sinne wir haben, sie reißen die Welt in Stücke. Erst unser Gehirn fügt diese Fragmente wieder zusammen um ein realistisches Bild einer einheitlichen, homogenen Welt zu erhalten. Erst Sinnesorgan und Gehirn in Kooperation führen zur Wahrnehmung der Welt. Kognition ist Wahrnehmung, unabhängig von den Kanälen der Sinne.
Zurück zum Gedankenexperiment mit dem Unterseeboot: Ein feinmaschiges Netz von Sinnesorganen bewirkt in jedem Fall ein Bild der Umgebung und nicht ein Bild von Anzeigetafeln auf Messinstrumenten. Auch hier gilt: Man darf den Informationsträger nicht mit der Information verwechseln. Wer meint, dass das Gehirn Informationsträger und Information verwechselt, hat meiner Meinung nach den Vorgang der Sinneswahrnehmung und die Funktion der Kognition nicht verstanden. Auch Anzeigetafeln haben den Sinn, eine Information zu vermitteln, die nicht in der Anzeige selbst begründet liegt. Wer dabei die Anzeige im Bewusstsein hat und nicht das, worauf sie verweist, kann damit nicht richtig umgehen. Das Gehirn erkennt den Unterschied und konzentriert sich auf die Botschaft und „vergisst“ den Botschafter. Der Steuermann des U-Bootes sieht mit Sicherheit nicht die Anzeigen vor sich, sondern die Klippen. Er weiß demnach ganz genau wovon wir sprechen, wenn wir ihn wegen seines fahrtechnischen Geschicks loben. Wer die Skalen versteht, der sieht sie nicht mehr, er sieht vielmehr das, was sie repräsentieren.
Wer Sinnesorgane oder Gehirn alleine betrachtet, um unsere Wahrnehmung zu analysieren, der wird niemals verstehen, warum wir tatsächlich die Welt sehen, wie sie ist.


1.5    Wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein


Manche Philosophen behaupten (Thomas Nagel hat es ausformuliert), dass eine Fledermaus in einer ganz anderen Welt lebt, als der Mensch und es deshalb für einen Menschen gänzlich unmöglich sei, sich die Welt einer Fledermaus vorzustellen. Aber ist das auch richtig? Wird dabei nicht wieder vergessen, dass  jedes Wesen die natürliche Fähigkeit besitzt, die verschiedenen Sinneseindrücke zu einer einheitlichen Welt zu verbinden? Wird da nicht wieder zwischen Sinnesorgan, Gehirn und wahrnehmendem Subjekt  unterschieden? Wir haben bereits gehört, dass es viele Blinde gibt, die das Gehör verwenden, um sich zu orientieren, und, dass viele davon ein visuelles Bild ihrer Umgebung „sehen“. Auch haben wir gehört, dass Blinde mit Hilfe von künstlichen Augen über die Zunge sehen können. Daraus lässt sich leicht ableiten, dass eine Fledermaus mit ihrem Ultraschallecho ihre Umwelt auch tatsächlich sieht. Eine Fledermaus erkennt über die Ohren die räumliche Welt genauso, wie wir über die Augen. Zwar sieht sie keine Farben, sondern den Härtegrad der Oberflächen, aber das ist kein prinzipieller Unterschied in der Weltwahrnehmung. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich im Bewusstsein der Fledermaus jene Wahrnehmungen der Ohren zu einem tatsächlich „visuellen“ Abbild der Wirklichkeit formen, welches unserem Sehen sehr ähnlich ist. Denn Kognition richtet die Aufmerksamkeit auf die Botschaft der zu erkennenden Welt und nicht auf den übermittelnden Botschafter. Was ist denn das Wesen des Sehens? Es geht ja nicht darum, Licht zu erkennen, sondern die Welt. Die Gegenstände im Raum sind die Objekte unserer Erkenntnis beim Sehen. Das Sehen ermöglicht uns, die Struktur des uns umgebenden Raumes wahrzunehmen. Ob wir das mit Hilfe des Lichts tun, oder ob wir uns dazu eines Ultraschallechos bedienen ist nicht von Belang.
Warum bleibt das den Konstruktivisten verborgen? Woran liegt es, dass sie diese relative Identität zwischen Repräsentation und Wirklichkeit bestreiten? Wieso meinen sie ableiten zu können, dass wir uns eine Wirklichkeit konstruieren, die mit einer hypothetischen anzunehmenden Realität im Außen nichts, oder nicht viel zu tun hat?
Ich denke, es liegt daran, dass man sich bei der Analyse der Erkenntnisfähigkeit zu einseitig auf die räumlichen und materiellen Strukturen der Lebewesen konzentriert. Wie schon erwähnt ist ein Sinnesorgan nur fähig, einen einzigen Informationsträger zu vermitteln. Das Auge vermittelt elektromagnetische Strahlung in einem kleinen Frequenzbereich, das Ohr Schallwellen usw. Wenn wir nun das Auge reizen, z. B. mit Druck auf den Augenkörper, so wird dieser Reiz als Lichtimpuls interpretiert und dem Gehirn und damit dem Bewusstsein übermittelt. Aber das ist in diesem spezielle Fall eben eine Fehlinformation. Schlägt mir jemand mit der Faust aufs Auge, dann existiert der Lichtblitz, den ich dabei wahrnehme, nicht wirklich. Daraus schließen die Konstruktivisten, dass Helligkeit selbst etwas ganz anderes sein könnte, als uns unser Auge vermittelt. Das Auge wird durch Helligkeit gereizt und vermittelt uns einen Eindruck. Aber wie der Faustschlag beweist, kann das Auge nur das vermitteln, was wir als Helligkeit wahrnehmen. Deshalb muss jene Eigenschaft der Wirklichkeit, welche das Auge reizt, nicht mit dem identisch sein, was wir wahrnehmen. Die Wahrnehmung wird vom Auge erzeugt. Helligkeit liegt in der Konstruktion des Auges begründet und nicht in der Wirklichkeit.
Die Frage scheint also berechtigt, ob ein Baum im Wald beim Umfallen tatsächlich ein Geräusch verursacht, wenn niemand da ist, der es hören könnte. Natürlich erzeugt er Schallwellen, aber Schallwellen sind nicht dasselbe wie die Erfahrung eines Geräusches. Ebenso wie wir vorher gesehen haben, dass die Empfindung der Helligkeit durch das Auge verursacht wird, wenn es durch Licht gereizt wird, so erzeugt auch das Ohr die Wahrnehmung von Geräuschen. Was Schallwellen tatsächlich sind, lässt sich somit von uns nicht feststellen. Ein Baum erzeugt beim Umfallen Schallwellen, nicht aber ein Geräusch. Diese Nichtreduzierbarkeit von Erfahrungen auf deren Informationsträger (Schall, Licht,...), wird damit zur Unmöglichkeit, die Welt so wahrzunehmen wie sie ist. Schließlich besteht sie nicht aus Geräuschen und Helligkeit usw., sondern aus Schallwellen und elektromagnetischer Strahlung. Somit können wir niemals wissen – so der Fehlschluss der Konstruktivisten – wie die Außenwelt tatsächlich beschaffen ist, denn alles, was wir wahrnehmen, liegt in unserer sinnlichen Konstitution begründet.
Und wieder wird hier die Botschaft mit dem Botschafter verwechselt.
Wie könnten wir überhaupt sicher sein, dass die gleiche körperliche Organisation zu einer gleichen Welt führt? Woher weiß ich, dass Sie, nur weil sie auch Augen haben, die optischen Eindrücke genauso erleben wie ich? Was sind überhaupt optische Eindrücke?
Des öfteren wurde schon blind geborenen Menschen durch eine Operation die Sehkraft geschenkt. Aber jedes Mal war die Enttäuschung groß. Diese Menschen konnten die hellen und dunklen Farbflecken nicht mit jener Welt in Übereinstimmung bringen, die sie sich aus den Wahrnehmungen von Tasten und Hören zurechtgelegt hatten. In kritischen Situationen schlossen diese Menschen die Augen, um sich besser orientieren zu können. Sehen funktioniert nicht einfach wie eine Videokamera. Wir können daher nicht behaupten, nur weil jemand Augen hat, sieht er auch so wie ich.
Ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Wenn ich einen Brief lese, dann ist es nebensächlich, mit welcher Schrift, mit welcher Tinte und auf welchem Papier er geschrieben ist. Wichtig ist nicht der Botschafter, der materielle Brief selbst, wichtig ist die Botschaft, das, was mit dem Text übermittelt werden soll. Dazu muss aber von meiner Seite aus etwas zum Brief hinzukommen. Wichtig ist ein dialogischer Konsens zwischen dem Botschafter (Brief) und dem Empfänger (Ich) über die Botschaft (Text): Ich muss lesen können, ich muss die Sprache verstehen, und ich muss wissen, was die verwendeten Wörter und Sätze bedeuten. Diese Voraussetzungen muss ich von mir aus mitbringen, um die Botschaft verstehen zu können. Dieser Minimalkonsens muss aber zwischen Absender und Empfänger vereinbart werden und nicht mit dem Botschafter.
Was bedeutet das nun übersetzt für die Sinneseindrücke?
Jedes Lebewesen spaltet die Welt mit verschiedenen Sinnesorganen in Einzelinformationen auf. Dann muss im Inneren dieses Lebewesens eine Fähigkeit vorhanden sein, die einzelnen Sinneseindrücke zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. Diese innere Fähigkeit ist ein kognitiver Sinn, der die Einzeleindrücke zu einer plausiblen Repräsentation des Außen wieder zusammenfügt. Erst dann wird aus Eindrücken eine Wahrnehmung. Wahrnehmung ist demnach etwas zutiefst Aktives. Der Wahrnehmende interpretiert die Informationen und integriert sie in ein bestehendes Weltbild, in die bereits vorher vorhandene Repräsentation der Außenwelt. Und hier liegt für die Konstruktivisten der Hund begraben: Sie trauen dieser inneren Aktivität nicht. Schließlich ist Wahrnehmung nicht mehr objektiv, wenn sie eine Aktivität des Subjekts voraussetzt. Sie sagen sinngemäß, dass eine andere innere Aktivität aus den selben Eindrücken eine andere Wahrnehmung machen würde. Somit kann Wahrnehmung keine objektive Repräsentation der Außenwelt im Inneren erzeugen. Das klingt durchaus logisch. Wo liegt also der Fehler in diesen Überlegungen?
Wieder liegt der Fehler in einer Abstraktion: Die Wahrnehmung wird in Wahrnehmenden und Wahrgenommenes aufgespalten. Die vor jeder Überlegung einheitliche Wirklichkeit zerfällt in Subjekt und Objekt. Das allein wäre noch nicht schlimm, ja es ist sogar notwendig für eine genaue Untersuchung des Sachverhalts. Aber diese Abstraktion muss am Ende der Analyse wieder rückgängig gemacht werden und das wird versäumt. Subjekt und Objekt bleiben dualistisch und unverbunden nebeneinander stehen. Die philosophische Tradition des Dualismus, der Trennung zwischen Körper und Geist, wird hier unerkannt zur Grundlage einer Theorie gemacht, die vorgibt, nicht dualistisch zu sein.
Wenn nun ein Philosoph den Wahrnehmungen traut, wirft man ihm „naiven Realismus“ vor. Man meint, er hätte sich die Problematik noch nicht ausreichend vor Augen geführt. Aber könnte es nicht auch sein, dass man diese Problematik lösen kann?
Der Fehler liegt bereits in der Annahme, es gäbe eine objektive Realität unabhängig vom beobachtenden Subjekt. Das Ergebnis der Konstruktivisten darf nicht Schlusspunkt der Überlegungen sein. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Abstraktion, die Trennung zwischen Geist und Körper, zwischen Subjekt und Objekt, am Beginn unserer Überlegungen stand. Sie ist das a priori, das Paradigma des Objektivismus und damit auch des Konstruktivismus. Radikaler Konstruktivismus stellt fest, dass es die Objektivität der Naturwissenschaft nicht gibt, ohne den darauf zwingend folgenden zweiten Schritt zu machen und das Subjekt wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Sie beharren einerseits auf der Existenz einer vom Subjekt unabhängigen Realität und sägen gleichzeitig an dem Ast, auf dem sie als Beobachter dieser Welt sitzen. Am Ende sehen die Vertreter dieser Richtung jegliche Weltsicht zwangsweise haltlos freischwebend über dem Abgrund des Nihilismus hängen. Damit ist jede Weltsicht gleichgültig und gleichwertig. Es etabliert sich ein egalitärer Pluralismus, der jegliche Orientierung vermissen lässt. Wer diese illusorische Sichtweise nicht mit trägt, enttarnt sich scheinbar als naiver Fundamentalist.
Dabei bleiben jedoch zwei Dinge unbeachtet:
●    Erstens ist der radikale Konstruktivismus auch ein Weltbild und wäre damit wie alle anderen Weltbilder ebenfalls völlig grund- und haltlos. Damit entzieht sich diese Theorie selbst den Boden.
●    Zweitens wird genau dieser objektive Standpunkt, den es ja laut der Theorie nicht gibt, in dieser Theorie nicht aufgegeben, weil der Subjektivität, dem einzigen Standpunkt der bleibt, weiterhin misstraut wird. Es kommt zu einem Scheinobektivismus.
Das Problem der Konstruktivisten ist, sie können ihren naturwissenschaftlichen Standpunkt nicht aufgeben. Zunächst wird das Subjekt aus der Welt ausgeschlossen, damit diese objektiv analysiert werden kann. Normalerweise führt diese Abspaltung dazu, dass die Naturwissenschaft das Subjekt in der Welt nicht mehr finden kann und daher annimmt, es sei von Anfang an eine bloße Illusion gewesen. Wenn sich ein Forscher jedoch auf das Subjekt als sein Hauptthema konzentriert, dann kehrt sich die Kluft um und er kann plötzlich die Welt nicht mehr finden. Solange die Trennung aufrecht erhalten bleibt, verschwindet eben entweder das Eine oder das Andere. Der Graben bleibt unüberbrückbar.
Die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus der objektiven Perspektive, die uns ermöglicht, Sinnesorgane oder das Nervensystem aufzuschneiden und deren materialistische Funktion zu analysieren. Das ist bloß die Ebene der Informationsträger. Natürlich ist das ein sehr wichtiger Aspekt, aber Bedeutungen wird man hier vergeblich suchen.
Die Wirklichkeit bedarf auch der subjektiven Perspektive, die uns ermöglicht, Sinneseindrücke einzuordnen und ihren Sinn im Weltganzen zu begreifen - das ist dann die Ebene der eigentlichen Informationen. In unserer Wahrnehmung finden wir die Welt, wir erfinden sie nicht. Diese theoretische Integration gelingt jedoch nur dann, wenn Innen- und Außenperspektive als gleichwertige Hälften einer ganzheitlichen Welt anerkannt werden. Der künstlich erzeugte Graben zwischen Subjekt und Objekt existiert in Wahrheit gar nicht. Er ist bloß das Ergebnis einer Zerlegung der Wirklichkeit. Vielen Forschern geht es heute so wie einem Kind, dass eine Uhr zerlegt um herauszufinden, wie sie funktioniert und das sie danach nicht mehr zusammensetzen kann. Wenn sie meinen, sie wüssten nun, wie die Sache funktioniert, dann funktioniert sie nicht mehr.
Wenn also in einem radikalen Konstruktivismus jeder Wahrnehmung der Realitätsbezug abgesprochen wird, dann nur aufgrund der Tatsache, dass mit der naturwissenschaftlichen Methode die Innenperspektive bereits vorher verleugnet wird. Als Folge davon gerät auch die sinnliche Wahrnehmung in den Verdacht, Falsches zu vermitteln. Darüber verliert man das Vertrauen in alle Vernunft und sieht als Ergebnis der Erkenntnis keine Wahrheiten mehr, sondern nur mehr ineinander verschachtelte Lügen, nichts als Täuschungen in Täuschungen ohne Ende. Und wer einmal durch diesen Umkehrspiegel geblickt hat, wird in ein Kaleidoskop illusorischer Untiefen entlassen, und es scheint nichts Wirkliches mehr zu geben, das dieser Paranoia noch etwas entgegensetzen könnte.
Das kann kein gangbarer Weg sein, wenn wir versuchen, diese, am Eingang dieses fatalistischen Irrgartens verleugnete Innenperspektive zu verstehen. Wir haben es nicht mit ineinander verschachtelten Täuschungen zu tun, sondern mit einem komplexen Gewebe aus interpretierten (Teil-)Wahrheiten.
Jedes Lebewesen spaltet die Welt mit verschiedenen Sinnesorganen in Einzelinformationen auf. Dann muss im Inneren dieses Lebewesens eine kognitive Fähigkeit vorhanden sein, welche die einzelnen Sinneseindrücke wieder zu einem sinnvollen Ganzen verbindet. Diese innere Fähigkeit fügt die Einzeleindrücke zu einer plausiblen Repräsentation des Außen neu zusammen. Die Art der Sinneseindrücke ist dabei nebensächlich. Wichtig ist lediglich, dass die Welt im Inneren so weit wie möglich der Welt im Außen entspricht. Sinneseindrücke müssen richtig interpretiert werden können. Und "richtig" bedeutet hier im richtigen Sinnzusammenhang für das eigene Leben. Dann ist es letztlich egal, ob ich einen Gegenstand aufgrund des von ihm reflektierten Lichtes oder aufgrund des von ihm reflektierten Schalls sehen kann. Es ist vollkommen unerheblich, welchen Informationsträger ich für die Übertragung der Daten aus der Außenwelt verwende. Egal, ob Licht oder Schall, ob magnetische Ströme oder elektrische Felder. Dies sind alles nur Boten, welche mir die Welt zu Bewusstsein bringen. Natürlich kann man nicht sagen, dass Licht objektiv hell ist, aber es erhellt jedem Wesen, das Licht wahrnehmen kann, die äußere Welt. Fledermäuse würden vielleicht zu lauten Ultraschalltönen hell sagen und zu ihren hellen Gegenständen würden wir vielleicht sagen, das sind Gegenstände mit harten Oberflächen, die Schall gut reflektieren.
Wichtig ist doch lediglich, dass mir aufgrund der von diesen Boten gelieferten Daten und mit Hilfe der kognitiven Fähigkeit meiner körperlichen Organisation, die Anfertigung eines möglichst genauen Abbildes der Außenwelt gelingt.
Natürlich kann ein Hund besser riechen und ein Adler besser sehen. Doch das ändert nichts an der prinzipiellen Wahrnehmung einer dreidimensionalen Außenwelt, welche mit unterschiedlichen Gegenständen gefüllt ist und in der ich mich selbst als ebensolcher Gegenstand bewegen und orientieren muss. Es ist kein noch so exotisches Wesen vorstellbar, dessen Innenleben nicht diesen Kriterien unterliegt. Die Ausschnitte aus der objektiven Wirklichkeit mögen für verschiedene Wesen unterschiedlich sein, aber das Prinzip ist immer gleich. Der Inhalt der Sinne mag unterschiedlich sein, das Muster, nach dem eine einheitliche Welt aus diesen Inhalten wiederhergestellt wird, das ist dasselbe. Wir haben es nicht mit ineinander verschachtelten Täuschungen zu tun, sondern mit einem komplexen Gewebe aus Wahrheiten.
Um die Struktur der Weltwahrnehmung zu begreifen, müssen wir uns überlegen, wo der kognitive Sinn herkommt, der die von den Sinnesorganen übermittelten Fragmente der Außenwelt wieder zu einer Einheit zusammenfügt. Dieses innere Sinnesorgan gilt es zu begreifen, wenn wir den Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt verstehen wollen.
Überleben war von Beginn der Evolution an davon abhängig, dass die Welt so genau wie möglich erkannt wird. Richtige Erkenntnis war also ein Überlebensvorteil. Dies ist der phylogenetische, evolutionäre Anteil der Erkenntnis. Dazu kommt der ontogenetische Anteil, der Anteil der individuellen Entwicklung. An blindgeborenen Menschen können wir sehen, dass sich auch individuell das Weltbild in permanentem Austausch und mit ständigem Feedback mit der Umwelt entwickelt. Diese zeitliche Komponente darf man nicht außer Acht lassen, wenn man Erkenntnisfähigkeit untersucht. Der kognitive Sinn, der die Sinneseindrücke zu einer Wirklichkeit zusammenwachsen lässt, ist ebenso durch den evolutionären Prozess von permanentem Feedback entstanden, wie die Sinnesorgane selbst.
Wenn wir den Segelflug eines Vogels beobachten, dann scheint es, als würde er die Flügel vollkommen ruhig halten. In Wahrheit benötigt ein stilles Gleiten permanent eine Unmenge winziger Korrekturen der Flügelstellungen. Jeder Aufwind, jede kleinste Verwirbelung und jede Unregelmäßigkeit im Luftdruck muss mit exakten Reaktionen ausgeglichen werden. Diese Gegensteuerungen werden vom Gehirn des Vogels bewirkt und sind prinzipiell an den elektrischen Impulsen in den Nervenbahnen des Vogels ablesbar. Diese Impulse sind daher eine exakte Spiegelung der Wind- und Luftverhältnisse, in denen der Vogel schwebt. Innen und Außen entsprechen sich in hervorragender Weise, sonst würde der Vogel nicht fliegen.


1.6     Subjektive Welten


Ich will damit nicht behaupten, dass es keine unterschiedlichen, subjektiven Weltsichten gäbe. Ganz im Gegenteil. Denn was zum Beispiel nicht gleich ist, sind die individuellen Beurteilungen dieser objektiven Welt: Was bedeuten die Dinge für mich? Welche Wertigkeit verbinde ich mit ihnen? Wie werden sie von mir in einen konsistenten Sinnzusammenhang gebracht? Welchen Gegenstand stufe ich als gefährlich ein? Nach welchen Umständen sehne ich mich? Usw. Daraus ergeben sich tatsächlich individuelle und zutiefst subjektive Wirklichkeiten. Wir dürfen also nicht erwarten, dass jedes Lebewesen in exakt derselben Welt lebt. Jedes hat seinen eigenen Welt-Raum mit ganz individueller Aufmerksamkeitsverteilung. Aber darauf dürfen wir die Sachlage nicht reduzieren, wie es die Konstruktivisten tun. Es gibt hinter all diesen subjektiven Bewertungen tatsächlich eine objektive Wirklichkeit als Grundlage, die mit dem kognitiven Sinn des Gehirns unabhängig von den sinnlichen Unterschieden gefunden wird. Egal ob die Welt über Licht wie beim Menschen oder über Ultraschall wie bei der Fledermaus erkannt wird. Die räumliche Anordnung der materiellen Dinge ist für alle Wesen dieser Entwicklungsstufe gleich erkennbar.
Eine Katze ist sowohl für den Hund, als auch für die Maus gleichermaßen eine Katze. Allein die Bewertung der Situation, wenn sie ihr gegenüberstehen, dürfte extrem unterschiedlich sein.
Wir müssen also festhalten: Nicht die Tatsache, dass wir in der selben Welt leben, diese aber über unterschiedliche Sinnesorgane erfahren, sorgt für unterschiedliche Wirklichkeiten. Vielmehr sind es die speziellen und individuellen emotionalen Erfahrungen, die auch aufgrund der Artenzugehörigkeiten gemacht werden und die unterschiedlichen Entwicklungshöhen des Bewusstseins, aus denen die unterschiedlichen Interpretationsschablonen gefertigt werden. Die Konstruktionen unserer Sinnesorgane sind weitgehend nebensächlich. Echte Empathie ist auch zwischen Lebewesen möglich, die sich körperlich vollkommen voneinander unterscheiden. Es besteht die prinzipielle Möglichkeit, sich in andere Wesen zuverlässig einzufühlen, auch in Fledermäuse. Es ist dem Menschen durchaus nicht prinzipiell verschlossen sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein.


1.7    Hierarchische Selbstkonstruktion


Wo Konstruktivisten jedoch recht haben, ist die Konstruktion der zwischenmenschlichen und selbstreflexiven Wirklichkeit. Kultur ist eine interaktive Selbstkonstruktion aus Vorstellungen und Erwartungshaltungen. Daher ist diese Wirklichkeitskomponente für Menschen auch prinzipiell veränderbar. Ebenso das Selbstbild, das sehr stark von unserer kulturellen Prägung abhängig ist. Aber diese beiden Bereiche sind genau jene Stufen der Wirklichkeit, auf der wir mit unserem Ichbewusstsein existieren.
In gleicher Weise können wir uns die Selbstkonstruktion auch auf niedrigeren Integrationsebenen vorstellen. Wir haben mit unserem Bewusstsein keinen Einfluss auf die Funktion und die Wahrnehmung von physischen, chemischen oder biochemischen Vorgängen. Aber anfänglich war nicht vorgegeben, welche biochemischen Botenstoffe welche Funktionen hatten. Die Interpretationen der Botschaften haben sich in gleicher Weise erst selbst konstruiert. Wenn wir von der Identität von Sein und Bewusstsein ausgehen, können wir als Metapher festhalten: Die Subjekte jeder hierarchischen Ebene müssen mit den vorgegebenen Wirklichkeiten der darunterliegenden Ebenen arbeiten um die Wirklichkeiten der eigenen Ebene daraus zu konstruieren.
Damit haben wir auch den Bereich eingegrenzt, auf den wir die Erkenntnisse des Konstruktivismus anwenden können: Wir sind Menschen und konstruieren daher unsere menschlichen Interaktionen. Nicht aber die materielle Welt, in der diese Interaktionen stattfinden. Kultur ist verhandelbar, Physik und Chemie nicht.